Die kleine Schwester
Das ist der Titel eines berühmten Kriminalromans von Chandler. Meine kleine Schwester ist weder die Mörderin, noch das Opfer. Aber spannend ist sie auch, und wie! Wenn ich ihre Bilder anschaue – und ich schaue sehr gern ihre Bilder an – fangen meine Augen an zu fliegen und mein Herz klopft, als bestiege ich gerade den Großglockner. Denn ob der Gaußplatz oder Garten – ihre Lieblingsmotive – mit der Geschwindigkeit von Sternen rasen sie durch einen geheimnisvollen unsichtbaren Raum. Es ist die Bewegung an sich, die sie mit ihrem Pinsel einfängt, ohne sie zu unterbrechen. Die Urbewegung des Seins, also das Leben selbst.
Sie ist meine kleine Schwester, obwohl wir gar nicht verwandt sind. Was das Blut betrifft. Sonst aber schon. Und wir haben auch so etwas wie eine gemeinsame Geographie. Sie hat eineinhalb Häuser. In dem halben, das auf dem Gaußplatz steht, bin ich aufgewachsen. Und neben dem ganzen in Zwettl ging ich aufs Gymnasium.
„Malen erlebe ich“, sagt sie, „als Eintauchen in die Natur. In den Moment. Das Jetzt, ein Verschmelzen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“. Das ist eigentlich eine Erfahrung, die alte chinesische Meister gemacht haben, und die großen Mystiker aller Religionen. Sollte Linde Waber, das Landmädel, das die Welt eroberte – von Brüssel bis Kyoto, von San Francisco bis in den Oman – nicht nur ein pittoresker Bohemien, sondern womöglich auch eine Erleuchtete sein? Auszuschließen ist es nicht. Obwohl sie das in ihrer niemals zugeben wird! Aber ihre Bilder verraten sie.
Ja, und wenn sie am Zwettler Küchentisch sitzt und Fisolen schneidet oder um Mitternacht mutterseelenallein im Zimmer sitzt und malt – ich weiß es, denn ich schlief nebenan – ist sie so schlicht und natürlich, dass man beinahe ihre Berühmtheit vergisst. Sie ist genügsam, sie stellt überhaupt keine Ansprüche, und sie ruht auf keinem Podest sondern sehr still in sich selbst.
Ich kenne sie als Tochter, Ehefrau, Mutter und Freundin – und jeder ihrer Lebensrollen war und ist sie selbstlos, liebevoll und unendlich hilfsbereit. „Ich hoffe“, schreibt sie über ihre Zukunftserwartungen, „mein Leben bis zu meinem Tode wie bisher, mir und meinem Wesen entsprechend, leben zu dürfen. Ist nicht Geburt und Tod, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eins? Ist der Sinn des Lebens der Sinn des Todes?“.